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Kleine Gewässer – grosse Bedeutung
Für das gesamte Ökosystem des Flussnetzwerkes spielen kleine Fliessgewässer eine bedeutende Rolle: Sie sind die Grundlage für die Gesundheit der grossen Gewässer, bieten spezielle Habitate für Flora und Fauna und tragen wesentlich zur Biodiversität bei. Für Fische sind sie bedeutende Reproduktionsgebiete, Aufwuchs- und Refugialhabitate. In der Schweiz sind die kleinen Gewässer jedoch stark gefährdet, da sie oft eingedolt und begradigt wurden.
von Armin Peter und Nils Schölzl
Jeder Bach spiegelt die geologischen und klimatischen Gegebenheiten seines Einzugsgebiets wider. Er wird durch das Abflussregime, sein Gefälle und die angrenzende Vegetation geprägt. Eine grosse Rolle spielen auch menschliche Eingriffe in der Umgebung oder am Gewässer. Daher gleicht selten ein Bach dem andern. Kleine Fliessgewässer entstehen bei Quellen und Grundwasseraustritten und vergrössern sich im Fliessverlauf durch den Zusammenfluss mit anderen Gewässern. So nehmen sie rasch an Breite, Tiefe und Wassermenge zu. Neben Bächen mit permanenter Wasserführung gibt es auch solche, die regelmässig austrocknen. Dies kann bedeuten, dass ein Bach stellenweise oder sogar ganz austrocknet und vielleicht nur an wenigen Tagen im Jahr überhaupt Wasser führt.
Hoher Anteil am Flussnetzwerk
So wie die Gesundheit eines Organismus von einem funktionierenden Kapillarsystem abhängt, bilden die fein verästelten kleinen Gewässer die Grundlage für die Gesundheit der grossen Gewässer und damit des gesamten Flussnetzwerkes.
Grosse Bedeutung der Uferzonen und Ufergehölze
Kleine Gewässer können einzigartige Habitate im Gewässer und der Uferzone bereitstellen, welche sonst im gesamten Flusssystem nicht vorkommen (Wohl 2017). Diese werden von sesshaften Individuen besiedelt oder von migrierenden Tieren zeitweise aufgesucht. Letztere wandern bei ungünstigen Bedingungen aus grösseren Fliessgewässern ab, um Schutz und Zuflucht in den kleinen Bächen zu suchen. Kleine Gewässer sind eng verknüpft mit den angrenzenden Uferzonen und dem Umland. Daher sind sie ein wichtiges Bindeglied zwischen dem terrestrischen und dem aquatischen Lebensraum.
Innerhalb der kleinen Fliessgewässer finden sich oft sehr hohe Fischdichten und Fischbiomassen, aber auch die Uferzonen weisen eine hohe Biodiversität auf und bieten zum Beispiel vielen Insekten Lebensraum. Besonders im Sommer sind terrestrische Insekten eine wichtige Nahrungsquelle, wenn die Fische einen hohen Anteil Anflugnahrung aufnehmen. Zusätzlich sind die Pflanzengürtel entlang der Gewässer (Uferstreifen) wichtige Wanderkorridore für terrestrische Tiere.
Der Eintrag von toten Ufergehölzen ist für die kleinen Fliessgewässer von grosser Bedeutung. Totholz strukturiert die Gewässer und stellt wichtige Habitate zur Verfügung. Eine weitere wichtige Funktion der Ufergehölze ist die Beschattung des Bachbettes, sie verhindert im Sommer eine übermässige Erwärmung des Gewässers. Die dadurch entstehenden Thermalrefugien mit kühleren Wassertemperaturen, werden in Zeiten des Klimawandels immer wichtiger. Sie sind besonders für Kaltwasser liebende Fischarten wie Bachforelle oder Äsche von Bedeutung, wenn die Hauptgewässer im Sommer zu warm werden.
Retentionspotenzial für Sedimente
Mit dem fliessenden Wasser werden Sedimente in die kleinen Gewässer und damit ins Flussnetzwerk eingetragen. Die Landnutzung spielt für den Eintrag von Feinsedimenten eine wichtige Rolle. Versiegelte Flächen halten Feinsediment kaum zurück. Auch aus Ackerland können bei Regenereignissen grosse Mengen von Feinsedimenten ausgespült und in die Bäche eingetragen werden. An einer intakten Uferzone eines Baches werden Sedimente jedoch weitgehend zurückgehalten. Ein vegetationsreicher Uferstreifen übt hiermit eine wichtige Pufferfunktion aus und verhindert ökologische Probleme wie die fehlende Durchlässigkeit der Gewässersohle (Kolmation). Diese stellt nicht nur ein Problem für die Laichareale von Fischen dar, sondern für das gesamte Substratlückensystem des Bachbettes (Interstitialraum). Neben Sedimenten kann eine intakte Uferzone auch Nährstoffe, synthetische Dünger und Pestizide zurückhalten.
Hoher Beitrag zum Nahrungsnetz der flussabwärts gelegenen Fliessstrecken
Kleine Gewässer sind Quellen für Wasser, gelöste Substanzen, Geschiebe und partikuläre organische Substanzen. Es werden grosse Mengen von organischem Material (Pflanzenteile, Blätter, Äste und Baumstämme) aus dem Umland eingetragen und abgebaut. Die Abfallprodukte (Detritus) von Pflanzen und Tieren bringen organischen Kohlenstoff in den Bach und werden in der Nahrungskette deutlich effizienter umgewandelt als in grösseren Fliessgewässern. Deshalb sind kleine Bäche besonders reich an organischem Kohlenstoff. Die beteiligten Mikroorganismen sind sehr aktiv und ermöglichen Algen und Pilzen ein starkes Wachstum. Davon profitieren auch die höheren Ebenen in der Nahrungskette, wie die aquatischen Invertebraten (z.B. Eintags-, Stein- oder Köcherfliegen sowie Bachflohkrebse). Diese sind wiederum die Futterbasis für bestimmte Vögel (z.B. Wasseramsel) und vor allem für Fische. Und obwohl in manchen kleinen Bächen gar keine Fische leben, tragen diese Bäche dennoch zum Wohlergehen der Fischpopulationen im Gewässersystem bei. Durch die Drift gelangen aquatische Invertebraten bachabwärts, wo sie für dort lebenden Fische eine wichtige Nahrungsquelle darstellen.
Haitatvielfalt und Erhalt der Biodiversität
Wenn sie sich in einem natürlichen Zustand befinden, weisen kleine Bäche vermutlich die höchste Habitatvariabilität aller Fliessgewässer auf (Meyer et al. 2007). Durch diese Vielfalt und die Existenz ganz spezifischer Lebensräume entstehen einzigartige Habitatmosaike. Dies ermöglicht die Besiedlung durch viele unterschiedliche Arten und damit eine hohe Biodiversität.Auch für den Erhalt der Bachforelle spielen die kleinen Bäche eine enorm wichtige Rolle. Sie dienen als Fortpflanzungs- und Aufwuchshabitat, aber bei entsprechender Wasserführung auch als permanente Habitate für residente Fische. Typische Begleitarten in den kleinen Bächen sind häufig Groppe, Elritze, Bachneunage und Schmerle.
Wichtige Reproduktions- und Rückzugsgebiete für Fische
Fische und Neunaugen nutzen kleine Fliessgewässer entweder ganzjährig (z.B. Bachforelle, Elritze, Groppe, Schmerle, Bachneunauge) oder sie besiedeln sie nur zu bestimmten Zeitpunkten während der Reproduktion, zum Aufwachsen oder als Refugialhabitate im Sommer beziehungsweise im Winter, bei ungünstigen Bedingungen im Hauptgewässer (z.B. bei hohen Temperaturen, chemischen Verschmutzungen etc.). In den folgenden drei Punkten wird die Bedeutung der kleinen Bäche vorwiegend für Forellen aufgezeigt. Kleine Gewässer sind jedoch auch für andere Fischarten, Krebse und aquatische Invertebraten wichtig.
- Laichhabitat (Natürliche Fortpflanzung)
Eine umfassende Studie von Baglinière & Maisse (2002) zu den Fortpflanzungshabitaten der Bachforelle in der Bretagne belegt die Wichtigkeit der kleinen Gewässer. Im Oberlauf der rund 60 Kilometer langen Scorff pflanzten sich die Bachforellen sowohl im Hauptgewässer als auch in den kleinen Seitengewässern fort. Im Unterlauf gab es jedoch im Hauptgewässer keine Fortpflanzung mehr. Alle adulten Fische aus diesem Abschnitt wanderten für die Reproduktion entweder in die kleinen Seitengewässer ein oder aber in den Oberlauf. Eine Studie von Huet & Timmermans (1979) über den Zeitraum von 20 Jahren zeigte ebenfalls, dass die adulten Bachforellen in der belgischen Lesse im Herbst zum Laichen in den kleinen, lediglich 1,4 Meter breiten Ry de Chicheron einstiegen. Nach dem Ablaichen kehrten die meisten Tiere innerhalb kurzer Zeit wieder ins Hauptgewässer zurück. Die Jungfische wanderten frühestens im April und Mai ins Hauptgewässer ab. 25 Prozent der Jungfische verblieben nur wenige Monate im Seitengewässer, 55 Prozent wanderten erst nach einem Jahr und 20 Prozent nach zwei Jahren ab. Diese Beispiele belegen, dass sich die grösseren und die kleineren Fliessgewässer eines Gewässernetzes gegenseitig ergänzen und jedes Gewässer seine eigene Funktion hat. Die kleinen Gewässer haben dabei eine enorm hohe Bedeutung für die natürliche Reproduktion der Bachforellen. Auch Seeforellen suchen für die Reproduktion neben den grösseren Seezuflüssen kleinere Fliessgewässer auf. Bammatter (2008) wies für mehrere kleine Zuflüsse des Zürichsees nach, dass diese für die natürliche Reproduktion eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.
- Aufwuchshabitat
Louison & Stelzer (2016) studierten das Vorkommen von noch nicht geschlechtsreifen (juvenilen) Bachforellen in sehr kleinen Fliessgewässern in Wisconsin (USA) (1. Ordnung, Breite 0,8 bis 2,3 Meter, Abfluss 0,1 bis 3,4 Liter pro Sekunde). Da es in diesen kleinen Seitengewässern keine natürliche Reproduktion gab, musste es sich bei den vorgefundenen juvenilen Fischen um eingewanderte Bachforellen aus dem Hauptgewässer handeln. Die beobachteten kleinen Bäche wiesen teilweise hohe Dichten mit bis zu einem Fisch pro Quadratmeter auf. Die Jungfische benutzten vor allem Areale mit sehr niedriger Fliessgeschwindigkeit und geringen Tiefen. Diese Tatsache verdeutlicht die Wichtigkeit der Juvenilhabitate in kleinen Fliessgewässern.
- Refugialhabitat
In Zeiten ungünstiger Bedingungen (hohe Temperaturen, extreme Abflüsse) verlassen Fische grössere Fliessgewässer und suchen Refugialräume in kleineren Gewässern auf. An extrem warmen Sommertagen suchen Forellen oft Schutz in kleinen Gewässern, welche in der Regel deutlich kühleres Wasser führen. Auch im Winter suchen Forellen kleine Bäche als Refugialräume auf.
- Ausbildung eines Wanderkorridors (longitudinale Vernetzung)
Kleine Fliessgewässer sind wichtige Korridore für die Ausbreitung von Geschiebe, zerkleinertem Material und Nährstoffen, aber auch für die Wanderung von Tieren. Vor allem in ausgeräumten Landschaften sind diese Korridore entscheidend. Ein funktionierender Wanderkorridor in den kleinen Gewässern ist unverzichtbar für das Überleben von Fischpopulationen, deren Laichgebiete und Juvenilhabitate teilweise oder vollständig in den kleinen Bächen liegen.
Fallbeispiel Tannenbach: Grosse Fischdichte im kleinen Bach
Der Tannenbach bei Buttisholz im Kanton Luzern (550 Meter über Meer) wurde von der Eawag, im Rahmen der Sömmerlingsstudie des Projekts Fischnetz (Schager & Peter 2001), über mehrere Jahre regelmässig quantitativ befischt. Der Bach 2. Ordnung weist eine mittlere Breite von 1,9 Metern auf und gehört zur Forellenregion. Sein Strukturierungsgrad wurde als mittel eingestuft, was auch durch die teilweise Begradigung bedingt ist. Eine Kolmatierung der Gewässersohle wurde im untersuchten Abschnitt nicht festgestellt. Die Beschattung lag bei 70 Prozent der Gesamtfläche. Mit der quantitativen Befischung vom 21. Oktober 2000 bei einem Abfluss von 37 Liter pro Sekunde (mittlere Niederwasserführung) konnten Bachneunaugen und Bachforellen nachgewiesen werden. In anderen Abschnitten des Gewässers kommen zudem Groppen vor. Die Bachforellendichte lag bei 16 762 Individuen pro Hektar, die Biomasse betrug 346 Kilogramm pro Hektar. Diese Dichte und Biomasse sind als äusserst hoch einzustufen. Hervorzuheben ist, dass die Dichte der 0+ Bachforellen 12 546 Individuen pro Hektar betrug. Damit wird die hohe Bedeutung dieses kleinen Baches als Lebensraum der juvenilen Bachforellen deutlich. Aber auch adulte Bachforellen finden genügend Habitate. Der Bach dürfte mit seiner hohen Fischdichte wesentlich dazu beitragen, die Fischpopulation der flussabwärts gelegenen Gewässerabschnitte zu erhalten. Alle gefangenen Forellen stammten mit Sicherheit aus natürlicher Reproduktion, weil im Gewässer bereits seit Jahren kein Fischbesatz mehr stattfand. Zwecks Erhaltung gefährdeter Arten und aus Sicht des Artenschutzes kommt dem Bach ebenfalls eine grosse Bedeutung zu, da das stark gefährdete Bachneunauge (Lampetra planeri) in diesem Bach noch vorkommt. Auch die Groppe (Cottus gobio) ist in den meisten Abschnitten in mittleren Dichten vorhanden.
Der Artikel ist eine gekürzte Version des gleichnamigen Beitrags aus AQUA & GAS No 7/8 | 2018.
Armin Peter ist Fischbiologe und Geschäftsführer des Umweltbüros FishConsulting GmbH. Er beschäftigt sich mit Fliessgewässern, Revitalisierungen und Fischwanderungen. Die Wege der Wanderfische erforscht er vor allem mit telemetrischen Methoden (z. B. Lachse).
Nils Schölzel ist Biologe beim Umweltbüro FishConsulting GmbH. Er schrieb seine Masterarbeit über die Aufwanderung von Groppen und Cypriniden in Gewässern mit technischen Aufstiegshilfen. Er beschäftigt sich ebenfalls intensiv mit wandernden Fischen. Zudem ist er ein leidenschaftlicher Fischer.