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Artikel aus aqua viva 2/2024
Hochwasserschutz: gestern, heute und im Angesicht des Klimawandels
Hochwasserschutz: gestern, heute und im Angesicht des Klimawandels
Starkregenereignisse im Sommer und Regen statt Schnee im Winter: Der Klimawandel erhöht an vielen Orten der Schweiz die Dringlichkeit des Hochwasserschutzes. Grosse Projekte wie an Thur, Reuss oder Limmat setzen dabei auch auf die Revitalisierung beeinträchtigter Flussabschnitte. Denn längst hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein natürliches Gewässer den besten Hochwasserschutz bietet. Aqua Viva begleitet Hochwasserschutzprojekte in der ganzen Schweiz und sorgt dafür, dass auch die Natur profitiert.
Von Christian Hossli
«Hochwasserschutzprojekte sind eine grosse Chance. Die Dringlichkeit ist gegeben und man kann mit derselben Klatsche gleich mehrere Fliegen schlagen. Denn wenn wir unseren Gewässern wieder mehr Raum geben, profitieren Hochwasserschutz, Naherholung und Biodiversität.»
Christan Hossli, Projektleiter Gewässerschutz
Durch die Revitalisierung von Flussufern sowie die Wiederherstellung intakter Auenlandschaften und Feuchtgebiete können wir nicht nur das Hochwasserrisiko reduzieren, sondern auch die Biodiversität fördern und die Lebensqualität der Menschen verbessern – eine echte win-win-win-Situation. Hochwasserschutzprojekte werden zudem mit grösserer Dringlichkeit angegangen als reine Revitalisierungen. Aqua Viva nutzt diese Chance, um unseren Gewässern wieder mehr Leben zu verleihen. Im Rahmen von neun Hochwasserschutzprojekten beispielsweise an der Thur oder der Reuss haben wir uns 2023 für mehr Raum und natürliche Strukturen eingesetzt – im Sinne eines nachhaltigen Hochwasserschutzes und der Artenvielfalt entlang unserer Gewässer.
Hochwasserschutz im Wandel
Der Hochwasserschutz hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Früher verliessen wir uns vorwiegend auf Dämme und kanalisierte Gerinne, um Überschwemmungen vorzubeugen. Flüsse und Bäche wurden mit massiven Eingriffen «gezähmt» und in enge Kanäle gezwängt. Auslöser für viele dieser Bauwerke waren Hochwasserereignisse im 19. Jahrhundert.
In den 1980er-Jahren begannen sich jedoch extreme Hochwasser zu häufen und zeigten die Defizite eines solchen «technischen Hochwasserschutzes» schonungslos auf. Dämme und andere Bauwerke waren nicht ausreichend dimensioniert: Die Schäden durch Hochwasser nahmen zu und die Erhöhung beziehungsweise der Unterhalt der Dämme wurde immer kostenintensiver. Zeitgleich stieg die Sensibilisierung der Gesellschaft für Umweltanliegen und deren Bedürfnis nach Erholung und Ausgleich in der Natur.
Heute soll der Hochwasserschutz mit möglichst minimalen Eingriffen erfolgen. Man setzt auf einen integrierten Ansatz, der verschiedene Massnahmen umfasst. Neben Dämmen und Verbauungen spielen auch natürliche Überflutungsgebiete und Auffangbecken eine wichtige Rolle. Durch die Kombination von technischen und ökologischen Lösungen kann Hochwasserschutz effizienter und nachhaltiger gestaltet werden. Gleichzeitig entstehen wertvolle Lebensräume und attraktive Naherholungsgebiete.
Thur3 (TG): ein Generationenprojekt nimmt Gestalt an
Aqua Viva engagiert sich seit mehreren Jahren intensiv im Einzugsgebiet der Thur. Unter anderem leiten wir die IG Lebendige Thur, welche sich für die Revitalisierung möglichst grosser Flussabschnitte stark macht. In diesem Sinne ist das Hochwasserschutzprojekt Thur3 des Kantons Thurgau das aktuell wohl wichtigste Projekt in dieser Region. Es betrifft die gesamte Thurgauer Thur von der St. Galler bis zur Zürcher Kantonsgrenze mit insgesamt circa 40 Flusskilometern. Im letzten Jahr wurde seitens des Kantons der Rahmen aufgespannt und erste Strukturen für diesen riesigen und langjährigen Umsetzungsprozess installiert. Die IG Lebendige Thur ist als Vertreterin der Umweltschutzinteressen in allen wichtigen Organen und Prozessen vertreten. Damit können wir sicherstellen, dass dieses Projekt auch das ökologische Potential voll ausschöpft. Leider gibt es diesbezüglich nach wie vor Defizite, die wir in den letzten Jahren bereits mehrfach zu korrigieren versuchten. So hat der Kanton die Geschiebemengen im Fluss falsch berechnet. Ausserdem will er an vielen Stellen die gesetzlichen Vorgaben bei der Gewässerraumausscheidung unterschreiten. Wenn die Thur aber zu wenig Platz hat und sich mehr Geschiebe im Fluss befindet als eigentlich gedacht, beeinträchtigt dies nicht nur die Wiederherstellung intakter Lebensräume. Der Kanton riskiert damit auch grosse Hochwasserschäden an Strassen, Bauten und landwirtschaftlichen Flächen. Da uns die Korrektur dieser Mängel im Projekt-Konzept nur teilweise gelungen ist, müssen wir nun während der Umsetzung konkreter Projekte dafür sorgen, dass diese Fehler ausgeräumt werden.
Reuss (LU): eine verpasste Chance
Auch an der Luzerner Reuss soll auf rund 13 Kilometer Länge der Hochwasserschutz verbessert werden. Hierzu bräuchte es eigentlich umfangreiche Aufwertungen, um den Fluss wieder in einen natürlicheren Zustand zu versetzen und gleichzeitig die Hochwassersicherheit zu gewährleisten. Leider verfehlt das 2023 vom Regierungsrat Luzern bewilligte Projekt erneut diese Ziele. Unter anderem gefährden die geplanten massiven Kiesentnahmen beste Laichplätze der stark gefährdeten Äsche. Nachdem Aqua Viva gemeinsam mit anderen Umweltschutzorganisationen bereits 2016 und 2019 Einsprache gegen das Projekt eingelegt hat, haben wir nun Beschwerde erhoben.
Lebendige Limmat (ZH): mehr Natur, mehr Naherholung, mehr Schutz
Nachdem die Limmat rund ein Jahrhundert lang begradigt floss, soll damit nun in der Schlierener Kurve Schluss sein: Mitten im dicht besiedelten Limmattal soll eine grosszügige und vielfältige Flusslandschaft entstehen. Dabei sollen Hochwasserschutz, Naherholung und Biodiversität gleichermassen profitieren – ein Paradebeispiel dafür, wie man die Chance für eine solche win-win-win-Situation nutzt. Wir waren von Beginn an Teil des Begleitgruppenprozesses und freuen uns, dass sich der Kanton im letzten Jahr für die Bestvariante entschieden hat. Wenn alles nach Plan läuft, kann die Umsetzung bereits 2027 beginnen.
In einer ersten Welle des Hochwasserschutzes wurde vor allem auf technische Lösungen gesetzt. Die Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass darunter nicht nur unsere Gewässerlandschaften mit ihrer einzigartigen Artenvielfalt leiden, sondern auf Dauer auch der Hochwasserschutz nicht ausreichend gewährleistet werden kann. Der Klimawandel macht nun eine weitere Welle des Hochwasserschutzes notwendig. Statt die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, müssen wir diese Chance nutzen und Natur- und Hochwasserschutz zusammen denken.
Ihr Kontakt
Christian Hossli
Projektleiter Gewässerschutz, Geschäftsführer IG Lebendige Thur