Mehr Wasserkraft, weniger Biodiversität
Mit den gestrigen Beschlüssen zum sogenannten Mantelerlass dreht das Parlament den wertvollsten Naturschutzgebieten der Schweiz das Wasser ab. In Auen von nationaler Bedeutung finden rund 84 Prozent der Schweizer Tierarten Lebensraum. Ausgerechnet diese Gebiete sollen nun auf Restwasser gesetzt werden. Für bedrohte Auenbewohner wie Gelbbauchunke, Flussuferläufer oder Äsche geht es ums Überleben.
«Wir müssen auf allen Ebenen gegen die Klimakrise vorgehen, dürfen dabei die Biodiversitätskrise aber nicht aus den Augen verlieren. Genau diese Chance hat das Parlament mit dem Mantelerlass verspielt. Es leiden unsere artenreichsten Lebensräume, obwohl die Gewässer bereits einen enormen Beitrag zur Stromproduktion in der Schweiz leisten» sagt Salome Steiner, Geschäftsleiterin von Aqua Viva.
Der Nationalrat hat bei der gestrigen Debatte zum Mantelerlass für die Gewässer und deren Lebewesen wichtige Differenz mit dem Ständerat beglichen: Restwasserstrecken sollen nun auch in Biotopen von nationaler Bedeutung erlaubt sein. Damit sorgt das Parlament im Rahmen des Mantelerlasses für eine weitere Regelung, welche zugunsten der Wasserkraftnutzung grosse ökologische Schäden nach sich ziehen könnte. Der Beschluss ist jedoch keineswegs ein Freifahrtschein für den Bau neuer Anlagen oberhalb von Biotopen von nationaler Bedeutung. Auch zukünftig gelten die Bestimmungen des Gewässerschutzgesetzes, wonach eine Interessensabwägung sowie angemessene Restwassermengen weiterhin zwingend sind. Dies betonte auch Bundesrat Albert Rösti im Rahmen der Parlamentsdebatte.
In der Schweiz gibt es 326 Auen von nationaler Bedeutung. Ihre Gesamtfläche beträgt 278 Quadratkilometer, was lediglich 0,7 Prozent der Landesfläche entspricht. Trotz dieser geringen Ausdehnung gelten Auen als die Regenwälder der Schweiz. Denn der Übergang zwischen Wasser und Land mit wechselfeuchten Gebieten und grosser Dynamik schafft vielfältige Lebensbedingungen. 10 Prozent der einheimischen Tierarten sind dementsprechend auf Auen angewiesen und 84 Prozent aller einheimischen Tierarten können in diesem Ökosystem vorkommen.
Seit 1850 sind in der Schweiz jedoch rund 90 Prozent der Auen verschwunden und durch die Bestimmungen des Mantelerlasses könnten weitere hinzukommen. Denn Auen leben vom Wasser und der Dynamik unterschiedlicher Wasserstände. Werden Flüsse durch Kraftwerke reguliert, verbleibt in den Restwasserstrecken ein konstanter Abfluss von lediglich 6 bis 12 Prozent des eigentlichen Flusswassers.
Bereits während der letzten Session hatte sich das Parlament darauf geeinigt, den Bau von Wasserkraftanlagen auch in Gletschervorfeldern und alpinen Schwemmebenen zu ermöglichen, sofern diese vor dem 1. Januar 2023 als national bedeutend eingestuft wurden. Dies obwohl aktuelle, wissenschaftliche Studien bspw. der Eawag auf die enorme Bedeutung alpiner Gletschervorfelder und Schwemmebenen für den Artenschutz in Zeiten des Klimawandels hinweisen und deren Schutz fordern.
Der Mantelerlass wird so zur Gefahr für unsere Gewässer. Gemäss den Roten Listen der Schweiz gelten heute 97,5 Prozent der ans Wasser gebundenen Lebensräume sowie rund 60 Prozent der dort lebenden Arten als bedroht oder potentiell gefährdet. Ihre Überlebenschancen werden sich mit dem Mantelerlass weiter verschlechtern und weitere Entscheide bspw. zur Unterschreitung der gesetzlichen Restwasserbestimmungen stehen noch aus.
Hintergründe
Zum Thema Restwasser und seiner Bedeutung für die Artenvielfalt:
→ Bernhard Wehrli (2023): Mehr Restwasser für die Biodiversität in Schweizer Flüssen.
→ Aqua Viva Themenbereich Restwasser: Flüsse brauchen Wasser
Zu alpinen Gewässerlebensräumen und ihrer Bedeutung für die Biodiversität: